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Matthias Weimayr
Wir gehen für dieses Symposion über kontroversielle Naturbegriffe in den Sozial- und Naturwissenschaften von zwei Problemfeldern aus:
1. von dem Verhältnis zwischen einem als unveränderlich betrachteten Substrat des "Natürlichen" im Menschen selbst bzw. in seiner Lebenswelt und dem Anspruch auf emanzipatorische Gestaltung von Innen- und Außenraum im Sinne einer Überwindung natürlicher Hindernisse auf dem Weg zu einer (moralisch, sozial oder materiell) besseren menschlichen Existenz (hier können die Ökologiedebatte, die Frage nach der psychologisch-biologischen Natur des Menschen, die feministische Kritik am Geschlechterverhältnis und die Wissenschaftstheorie/soziologie anknüpfen).
2. von der politisch-gesellschaftlichen Relevanz von "Natur", d.h. von der (im weitesten Sinn ideologischen) Funktion des jeweils verwendeten Naturbegriffs als "Umschaltstelle" zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer bzw. technischer Nutzanwendung; dies betrifft sowohl die gesellschaftliche Verwertung der Technik als auch die Übertragung naturwissenschaftlicher Modelle auf soziale Ordnungen und politische Herrschaftsverhältnisse.
Die im folgenden unterbreitete Problemanalyse dient als übergreifender Orientierungs- und Argumentationsrahmen des Symposions. Sie soll in den für den Freitagabend geplanten Eröffnungsvorträgen näher ausgeführt und zugespitzt werden (was abweichende Positionen keineswegs ausschließt). Die vier Arbeitskreise sollen dann entsprechend ihren unterschiedlichen Schwerpunkten und spezifischen Fragestellungen an diese Ausführungen anknüpfen, sind aber ansonsten der freien Gestaltung der ArbeitskreisleiterInnen bzw. TeilnehmerInnen überlassen. Am Schluß des Symposions soll dann anhand dieses Diskussionsrahmens im Plenum eine Synopsis erreicht werden, die Widersprüche als Knotenpunkte für die Fortführung und Weiterentwicklung des Diskurses sichtbar macht.
Aus der Sicht dieses Symposions ist eines der zentralen Themen des gesellschaftlichen Diskurses über Naturbegriffe und -konzeptionen steht die Frage, ob es in dem, was als Natur definiert worden ist, so etwas wie ein unveränderliches, essentielles "Substrat" gibt, ein unaufhebbares Apriori menschlichen Handelns, Fühlens und Denkens, oder ob "Natur" bloß ein Objekt der vollzogenen bzw. verheißenen Eroberung, Aneignung und Beherrschung durch den Menschen bezeichnet. Damit verbunden ist die fundamentale Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur: ist er bloß ein Glied in der Kette der Geschöpfe und damit (in welcher Hinsicht und in welchem Ausmaß?) abhängig von natürlichen Bedingungen; oder ist er maitre et possesseur (Descartes), autonomes Subjekt seines eigenen Schöpfungsprozesses, in dem die Natur nur noch Material- und Werkzeugcharakter hat?
Der Anspruch der Moderne auf rationale (Selbst)Beherrschung als Mittel der Emanzipation, des Mündigwerdens, ist immer auch ein Anspruch auf die Beherrschung der "Kräfte der Natur" in all ihren Aspekten des Inneren und Äußeren gewesen. Im postmodernen Diskurs scheint dieses Wachstum von Wissen und Macht an seine Grenzen gestoßen zu sein, an prinzipielle Herrschaftsgrenzen, die nur um den Preis der Selbstzerstörung (vgl. den alten Frankensteinmythos mit der aktuellen Gentechnik-Debatte) überschritten werden können.
Das ist nicht nur ein akademischer Streit um Definitionen; das ist vielmehr ein Kampf um eine Begrifflichkeit, die es ermöglichen soll, symbolische Ordnungen und die damit verbundenen praktischen Handlungspräferenzen zu (de)konstruieren. Diese wiederum dienen nicht nur der existentiellen Sinngebung, sondern v.a. der Legitimierung bzw. Delegitimierung von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen - und zwar sowohl zwischen Menschen (d.h. zwischen den Klassen, Ethnien, Altersgruppen, Geschlechtern), als auch zwischen Mensch und Umwelt, Kultur und Natur. Die Definition von Naturbegriffen berührt Fragen unserer Herkunft und der Bedingungen und Ziele unserer Existenz als Individuum bzw. als zoón politikon. Sie berührt unsere Konzepte der realen bzw. idealen Gesellschaft - und unsere eigentümlich "duale" Seinsweise, d.h. die Beziehung von Geist und Körper, von Vernunft und Affekt.
Ist es Zufall, daß unsere inneren Antriebskräfte dem Bereich der Natur, v.a. der destruktiven, chaotischen Natur zugeordnet werden, während die Vernunft als übernatürliche, schöpferische Fähigkeit erscheint? Ist es Zufall, daß zugleich die der Herrschaft Unterworfenen - die Untertanen, das Proletariat, die Frauen, ethnische Minderheiten, schließlich das Fremde/Andere überhaupt - aus der Perspektive der Macht dem Bereich der vernunftlosen Natur zugeordnet und der Zivilisation mit ihren spezifischen Mechanismen der Triebrepression gegenübergestellt werden? Und welche politischen Konsequenzen hat dies?
Die Frage nach der Definition von "Natur" ist stets auch eine Frage danach, wer die Begriffe definiert, welche Interessen damit verbunden sind, welche sozialen Konflikte dahinter stehen, welche (natürlichen?) Bedürfnisse befriedigt bzw. verdrängt werden sollen. Diese "soziale Frage" läßt sich durch "rationalistische Dekontextualisierung" (Toulmin) weder lösen noch umgehen. Weder können Wissenschaftler die Verantwortung für ihre Produkte einfach an andere Institutionen delegieren, um "reine" Wissenschaft zu betreiben (dies wäre nur unter den Bedingungen eines schizophrenen Ichzerfalls denkbar), noch verschwindet der verdrängte soziale Kontext aus ihrem Denken und Handeln. Umgekehrt ist die totale Verfügbarkeit von Natur - nach dem Modell berechenbarer Gesetzmäßigkeiten - aus der Perspektive politischer Herrschaftsansprüche eben auch als (narzißtische) Allmachtsillusion mit verheerenden Folgen für den Umgang des Menschen mit seiner Umwelt, seiner inneren Natur und seinen Mitmenschen zu verstehen.
In diesem Sinn ist die innerhalb der Polarität von Essentialismus und Konstruktivismus erfolgende Begriffsbildung immer auch eine Funktion gesellschaftlicher Bedingungen, die ihrerseits wieder auf dynamische Weise mit natürlichen Bedingungen interagieren.
Die theoretische und praktische Grenze zwischen Natur- und Sozialwissenschaften ist stets in beide Richtungen durchlässig gewesen. Die Sozialwissenschaften haben sich - schon in ihren Anfängen bei Aristoteles und den Scholastikern, erneut bei Bacon und Hobbes - immer wieder naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Modelle über die grundlegenden Mechanismen natürlicher Prozesse und Strukturen bedient. Zugleich haben die Naturwissenschaften in ihrer Theorie- und Modellbildung auf die Situation ihrer Gesellschaft und den Zustand ihrer symbolischen Ordnung reagiert. Dabei gibt es keine eindeutigen Abbildungsverhältnisse, keine linearen Projektionen, wohl aber komplexe Transformationen auf der Ebene des abstrakten Denkens, individueller und kollektiver Mentalitäten, wohl auch im Bereich des Unbewußten.
Das Problem dieser möglichen Transformationen ist durch den Rückzug in eine Welt reiner, ewiger, objektiver Ideen nicht zu lösen. Im Gegenteil: die Behauptung der Existenz einer solchen Ideenwelt läßt sich selbst wieder als Funktion des Politischen lesen: als Prozeß der Instrumentalisierung von Naturkonzepten für konkrete Herrschaftszwecke bei gleichzeitiger Neutralisierung der Naturwissenschaft im Prozeß der arbeitsteiligen Ausdifferenzierung der Diskurse der Moderne.
Aus diesem skizzierten Problemverständnis ergeben sich für uns zwei grundsätzliche Fragestellungen, die aus den spezifischen Konzepten der Arbeitskreise und der einzelnen Referate heraus kritisiert/konkretisiert/erweitert werden können.
* In welchem Verhältnis steht die Diskussion zwischen Essentialismus und Konstruktivismus zu der Frage nach den Grenzen der gesellschaftlichen Nutzbarkeit von "Natur"? Ist der Mensch autonomes Subjekt eines (nicht zuletzt gesellschaftlichen) Aneignungsprozesses oder von seiner inneren, unbeherrschbaren Natur getriebenes Objekt eines Evolutions- oder Verfallsprozesses? Und welche Rolle spielt dabei die (häufig unterschwellige) Identifizierung von Natur als das zu Beherrschende mit dem Weiblichen?
* Gibt es überhaupt so etwas wie einen vom sozialen Kontext losgelösten Naturbegriff oder sind sozial- und naturwissenschaftliche Konzepte letztlich komplementär, durch gemeinsame Bedingungen der Produktion von Erkenntnis im Rahmen sozialer Institutionen und symbolischer Ordnungen aufeinander bezogen? Wenn das aber so ist: was ist dann "das Politische" in den naturwissenschaftlichen Naturdiskursen und welche Rolle spielen naturwissenschaftliche Theorien und Modelle in der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Natur von Mensch und Gesellschaft?
Ob man die Natur nun als das Gegebene oder als das Formbare betrachtet: Beide Pole des aktuellen Diskurses lassen sich zur Legitimation politischer Macht ge/mißbrauchen, haben im Rahmen der symbolischen Ordnung(en) auch ideologischen Charakter - und dieser wird durch das falsche Bewußtsein, das aus der (scheinbaren) Verdrängung des Politischen aus dem objektiven Erkenntnisprozeß erwächst, noch verstärkt. Das bedeutet nicht, daß es keine innere Logik der wissenschaftlichen Theoriebildung und Problemlösung gäbe, wohl aber, daß gerade bei der Formulierung fundamentaler Begrifflichkeit zu ihr der soziale und symbolische Kontext hinzugedacht werden muß. Erst dann wird die soziale Relevanz und Brisanz der Kontroverse um Naturbegriffe verständlich - nicht primär als böswillige Verdrehung, sondern als unvermeidliche Frage nach unserer eigenen Natur und unserer Stellung innerhalb einer Natur, für die unsere Trennung von "innen" und "außen" nicht existiert.
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