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V. Chinas Frauen in der Reformperiode: Selbstverantwortung angesichts der Herausforderungen der Marktwirtschaft
von Mag. Nicola Spakowski, FU Berlin(1)
Im Rahmen der westlichen Berichterstattung der Weltfrauenkonferenz wurde vielfach versucht, die Lage der Frauen des Gastgeberlandes darzustellen. War das sozialistische China ehedem gepriesen worden als Land, in dem die Frauen "die Hälfte des Himmels" erobert hätten, so wurden jetzt ? ähnlich pauschal ? Chinas Frauen als die Verliererinnen der Reformpolitik bezeichnet, und es wurden Einzelphänomene in den Blick gerückt, die ein düsteres Gesamtbild ergaben: Prostitution, Frauenhandel, Abtreibung weiblicher Föten usw. So sehr solche Verletzungen der Frauenrechte anzuprangern sind ? sie sind nur ein Teil der Realität der Frauen Chinas und auch nur eine Seite in deren Selbsteinschätzung. Viel zu wenig ist von der Vielgestalt des Lebens chinesischer Frauen bekannt und viel zu wenig von der inzwischen sehr regen Frauenforschung und Frauenbewegung der Volksrepublik.(2)
Die Auswirkungen der Ende 1978 eingeleiteten Reformpolitik auf die Struktur der chinesischen Gesellschaft, besonders aber auf die Lage der Frauen Chinas, können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Auf dem Land gehörte zu den Reformen im wesentlichen die Entkollektivierung und die Rückkehr zur Familie als grundlegender Produktionseinheit, im industriellen Bereich Maßnahmen zur Erhöhung der Effizienz der Produktion (Rationalisierung oder Schließung unrentabler Betriebe, Dezentralisierung und größere Entscheidungsfreiheit der Betriebe, neue Eigentumsformen usw.). Mittlerweile definiert sich die chinesische Wirtschaftsordung als "sozialistische Marktwirtschaft" oder nur noch als "Marktwirtschaft", Zielsetzung und Selbstbild der chinesischen Gesellschaft in allen Bereichen sind von den Begriffen "Reformen", "Modernisierung", "Wandel" geprägt. Die sogenannte "Neue Ära" unter Deng Xiaoping kann als Prozeß weitreichender sozialer Differenzierung sowie größerer Mobilität bezeichnet werden, der allein unter den Frauen Chinas eine Vielzahl neuer sozialer Gruppen hervorgebracht hat: Frauen in den Joint Ventures der Sonderwirtschaftszonen, Frauen im Heer der sog. "Wanderarbeiter", die die ökonomisch benachteiligten Inlandsprovinzen verlassen, um an der Küste nach besseren Verdienstmöglichkeiten zu suchen, Managerinnen, Hausangestellte in den reicheren städtischen Haushalten und die neuen Hausfrauen, die diesen Status entweder freiwillig einnehmen, weil das hohe Einkommen ihrer Männer ihre Berufstätigkeit nicht mehr notwendig macht, oder gezwungenermaßen, als Opfer von Rationalisierungsmaßnahmen. Einzelne Gruppen haben also unterschiedlich vom politischen und ökonomischen Kurs der letzten fast zwangzig Jahre profitiert.
Auch die Frage, wie von chinesischer Seite die Lage der Frauen Chinas beurteilt wird, muß differenziert beantwortet werden. Ein im Juni 1994 veröffentlichter Bericht des chinesischen Staatsrates, der sich an die TeilnehmerInnen der Vierten Weltfrauenkonferenz wandte, präsentierte eine Erfolgsstatistik des sozialistischen China. Schon die ersten Maßnahmen des neuen sozialistischen Staates ? Bodenreform, Wahlrecht, Ehegesetz, Beseitigung der Prostitution, Berufstätigkeit von Frauen, Minderung der Analphabetenrate ? hätten die Frauenfrage gelöst: "Das Neue China hat durch diese großangelegten Massenbewegungen in nur wenigen Jahren den gesamten von der mehrtausendjährigen Feudalgesellschaft hinterlassenen Unrat hinweggespült und damit den Frauen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und Familienleben jeweils zu einer grundsätzlichen Befreiung verholfen.(3)
Die Verwirklichung der Frauenbefreiung durch die sozialistische Revolution war in den ersten drei Jahrzehnten der Volksrepublik Dogma der chinesischen Frauenbefreiungstheorie und Frauenpolitik und ist es im Selbstverständnis des Staates und in orthodoxen Kreisen des Frauenverbandes, der für die Umsetzung der Frauenpolitik der KPCh zuständig ist, bis heute: Die proletarische Revolution habe ökonomische Ausbeutung grundsätzlich beseitigt, und durch die staatliche Förderung der Berufstätigkeit hätten die Frauen ökonomische Unabhängigkeit erlangt, die wiederum Voraussetzung der Mitwirkung in allen Bereichen der Gesellschaft sei.
Dieses revolutionäre Pathos des "Neuen China" ist in weiten Kreisen der chinesischen Frauenforschung und Frauenbewegung allerdings endgültig verblaßt. Nicht mehr das Jahr 1949 als Wende zum "Neuen China" ist ihnen das entscheidende Datum der Selbstdefinition, sondern das Jahr 1978, der Beginn der Reformperiode, der "Neuen Ära" ? als Phase des Wandels der Situation der chinesischen Frauen einerseits, als Periode der Entstehung und Entwicklung einer neuen Frauenforschung und Frauenbewegung zum anderen.
Der Beginn dieser neuen Periode der chinesischen Frauenforschung kann etwa Mitte der 80er Jahre angesiedelt werden, und ein deutlicher Aufschwung zeichnete sich ab, als 1988 unter dem Schlagwort der "Rückkehr der Frauen an den Herd" (funü huijia) eine Debatte laut wurde, die den Angelpunkt des bisherigen Verständnisses von Emanzipation traf: das Problem des Rückgangs der Berufstätigkeit von Frauen. Es war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu übersehen, daß der Reformprozeß die Lage der Frauen auf ganz besondere Weise prägte. Zwar wurde und wird die Reformperiode in der enormen Verbesserung des Lebensstandards insgesamt positiv eingeschätzt, und nach wie vor wird der ökonomischen Entwicklung des Landes Priorität eingeräumt, aber neben den "Chancen" von Dezentralisierung und Wettbewerb wurden auch ganz deutlich ihre "Herausforderungen"(4) benannt: Frauen waren im Wettbewerbsnachteil und drohten Opfer der Reformen zu werden, die Lockerung der staatlichen Kontrolle in vielen gesellschaftlichen Bereichen begünstigte das Wiederaufleben traditioneller Formen der Frauendiskriminierung. Die Existenz spezifischer "Frauenprobleme" (z.B. die schlechte Arbeitsmarktlage weiblicher Hochschulabsolventen, die höhere Analphabetenrate unter Frauen, der geringe Anteil von Frauen in der Politik, hohe Sterblichkeitsraten unter weiblichen Säuglingen, Prostitution, Frauenhandel usw.) konnte nicht mehr geleugnet werden, die Frauenfrage war offensichtlich keineswegs mit der sozialistischen Revolution vollständig gelöst. Es bedurfte neuer theoretischer Reflexionen bezüglich der Einschätzung der Lage der Frauen sowie Einzelstudien und praktischer Bemühungen zur Behebung der Frauenprobleme.
Die als Antwort auf diese Herausforderungen entstandene Frauenforschung der VR China war, was die 80er Jahre anbelangt, noch recht deutlich zu unterscheiden in eher orthodoxe oder praxisbezogene Ansätze, wie sie besonders seitens des Frauenverbandes verfolgt wurden, und den eher undogmatischen Ansatz Li Xiaojiangs, die als Hauptinitiatorin der chinesischen Frauenforschung gelten kann. Kriterium für die Bezeichnung "undogmatisch" ist dabei, daß Li Xiaojiang Vergangenheit und Gegenwart der Frauen Chinas mit einem grundsätzlich neuen Ansatz betrachtete: In ihrem 1988 publizierten Buch "Xiawa de tansuo" (Die Erforschung Evas)(5) lehnte Li es ab, Frauengeschichte weiter unter die allgemeine historische Entwicklung zu subsumieren. (Diese wird in der VR China auch heute noch weitgehend nach der Abfolge der fünf Gesellschaftsformationen des Historischen Materialismus periodisiert.) Vielmehr kombinierte Li marxistische und feministische Kategorien und sprach von einem unabhängigen Entwicklungsweg der Frauen, und zwar in drei Stufen: Matriarchat, Sklaverei und Befreiung. Das Stadium der Befreiung sei sowohl im sozialistischen China als auch in den westlichen kapitalistischen Ländern zwar bereits angebrochen, in beiden Systemen aber nicht verwirklicht. Die Aufwertung der Kategorie Geschlecht gegenüber der Klassenfrage drückte sich auch darin aus, daß Li als erste die Etablierung einer systematischen Frauenforschung forderte und einen wesentlichen Beitrag für der Umsetzung dieses Vorhabens leistete. Nach diesen kühnen Herausforderungen orthodoxer Positionen durch Li Xiaojiang und der schrittweisen Ausbreitung der Frauenforschung in der zweiten Hälfte der 80er Jahre hat sich diese allerdings mittlerweile nach ihrer Organisationsstruktur, Publikationsforen, Themen, Ansätzen und Theorien derart ausgeweitet und differenziert, daß sie nicht mehr mit wenigen Sätzen zu charakterisieren ist. Allein die oben genannte Differenzierung der chinesischen Gesellschaft, die Komplexität der Empirie(6) , mag Erklärung dafür sein, daß nicht mehr von der chinesischen Frauenforschung die Rede sein kann. Die Bandbreite ihrer Themen umfaßt den Rollenkonflikt berufstätiger Frauen, politische Partizipation und politisches Bewußtsein, die spezifische Problematik von Frauen in den Städten und auf dem Land sowie in den verschiedenen Unternehmensformen, Gewalt in der Familie, historische Themen usw. Dem Ansatz nach finden sich reine Datenerhebungen neben programmatischen Texten einzelner Disziplinen der Frauenforschung, die von der intensiven Auseinandersetzung mit Texten des westlichen Feminismus zeugen.(7)
Gerade aber dieser innerhalb nur weniger Jahre vollzogene Aufschwung der Frauenforschung Chinas und die Pluralisierung von Positionen und Perspektiven als solche verdienen Beachtung, weisen sie doch auf ein grundsätzlich neues Verhältnis von Staat und Gesellschaft hin: Einzelne soziale Gruppen ? mit den Frauen als herausragendem Beispiel -, dem Schutz des Staates beraubt, erkennen die Notwendigkeit ? positiv ausgedrückt: die Möglichkeit ?, Gruppenbewußtsein zu entwickeln und sich als Interessengruppe zu formieren.(8) Bezogen auf die Frauen: die Probleme der Marktwirtschaft werden als "Herausforderungen" verstanden, denen als Gruppe und in Selbstverantwortung begegnet werden muß. Es kann dabei nicht von autonomen Frauengruppen die Rede sein, denn ihr Verhältnis zum Staat ist pragmatisch und muß es sein: Universitäre Frauenforschungszentren etwa bedürfen der Genehmigung der Universitätsleitung, und sie sind durchaus willig, mit (Forschungs-)organen des Frauenverbandes zusammenenzuarbeiten, denn dieser verfügt über eine bessere Infrastruktur, besonders was die Durchführung von Meinungsumfragen und Datenerhebungen anbelangt, und über besseren Zugang zu den Medien. Als Beispiel sei hier ein Projekt des Frauenforschungszentrums der Peking-Universität genannt: Dessen Mitglieder interessierten sich für die Probleme der Mädchenbildung in der wesentlich von der muslimischen Hui-Nationalität bevölkerten Autonomen Region Ningxia. Sie begaben sich vor Ort, wo sie im Zusammenwirken von Vertretern der verschiedensten Institutionen ? auch des Frauenverbandes ? die Defizite der Schulbildung von Mädchen und bisherige Gegenmaßnahmen in diesem Gebiet erörterten und eine Kooperation zur weiteren Untersuchung und Verbesserung der Lage vereinbarten.(9)
Trotz dieser häufig festzustellenden Überschneidung staatlicher und nichtstaatlicher Aktivitäten der chinesischen Frauenbewegung ist hervorzuheben, daß radikalere Theoretikerinnen der chinesischen Frauenbewegung, besonders Li Xiaojiang, die Tendenz zur Lösung vom Staat und zur Pluralisierung zum Kennzeichen der aktuellen Frauenbewegung, ja zum Maßstab einer Frauenbewegung schlechthin erhoben und damit einen klaren Bruch mit der Frauenbewegung unter staatlicher Lenkung in der Zeit vor 1978 deutlich gemacht haben.(10) Diese eigene Periodisierung der neueren chinesischen Geschichte und der chinesischen Frauenbewegung und die damit verbundene Aufwertung der "Neuen Ära" ? in ihren Problemen, aber auch dem eigengesetzlichen Wirken sozialer Kräfte ? ist zwar nicht mehr selten, stellt aber immer noch einen empfindlichen Angriff dar auf das Selbstverständnis der KPCh als Führungskraft der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, ja trifft entscheidend die Legitimation ihrer Herrschaft, die immer noch wesentlich auf dem Anspruch beruht, mit der sozialistischen Revolution das chinesische Volk endgültig "befreit" zu haben.
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