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von Margarete Maurer
aus: Soznat. Blätter für soz.* Aspekte der Naturwissenschaften und des naturwissenschaftlichen Unterrichts, 6.Jg., Heft 3, Juni 1983, S.119-127Ort des Geschehens: Ein internationales Meeting von Biochemikern
in England. Unter den Teilnehmern, wie es bei solchen eher lockeren
Treffen üblich ist, einige der Gemahlinnen. Manche von ihnen haben
ihre Männer schon öfter begleitet und sind daher mehr oder weniger
über die verhandelten Themen informiert, so daß sie sich wenigstens
ab und zu mit einigen Bemerkungen ins Gespräch mengen können.
Gerade erläutert eine Dame in scharfsinniger Form eine der angeschnittenen
Fragen. Sagt ein Herr zu ihrem Ehemann: "Sie haben ihre Frau aber
gut trainiert" worauf ihn ein weiterer Gast aufklärt: "She's not
a lady, she is a scientist! Sie ist keine Dame, sie ist Wissenschaftlerin."
Dies geschah nicht etwa im Mittelalter, sondern im dunklen 20.
Jahrhundert und macht deutlich, daß sich längst noch nicht alle
Männer an die Existenz von Frauen in Naturwissenschaft und Technik
gewöhnt haben. Eine Kollegin erzählte mir: Wenn eine Ingenieurstudentin
zu spät in die Vorlesung kommt, ist es an vielen Technischen Hochschulen
so, daß sie ein Pfeifkonzert erlebt oder freche bis anzügliche
Bemerkungen zu hören bekommt, und zwar nicht nur von seiten der
Studenten, sondern auch der Dozenten. Immer noch müssen Frauen,
die es wagen, in das von Männern beherrschte Feld der Technik
und Naturwissenschaft einzudringen, mit Schwierigkeiten rechnen
und sich mühsam durchsetzen.
Dabei haben Frauen sich längst einen Platz in der Wissenschaftsgeschichte erkämpft, wenn auch der Frauenanteil in den naturwissenschaftlich-technischen Studienfächern und Berufsfeldern bei uns noch keineswegs ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. In den USA und in der UdSSR sehen die Zahlen etwas besser aus, doch ist der Kampf der Frauen um angemessene naturwissenschaftlich-technische Berufsmöglichkeiten auch dort noch keineswegs zu Ende.
Im Laufe der abendländischen Wissenschaftsgeschichte hat es nämlich durchaus immer wieder Frauen gegeben, denen es gelang, die Schranken des herrschenden patriarchalischen Systems zu durchbrechen und ihren mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Interessen nachzugehen. Ihre zum Teil hohen wissenschaftlichen Leistungen werden in den entsprechenden Nachschlagewerken, Handbüchern und biographischen Lexika indes häufig noch nicht einmal erwähnt. Und wenn die Autoren wissenschaftsgeschichtlicher Werke hier und da doch nicht umhin kommen, einige bedeutende Frauen ihrer außerordentlichen fachlichen Leistungen wegen wenigstens zu nennen, da wird ihre Bedeutung oft unterschätzt, zu gering bewertet oder gar bewußt herabgewürdigt.
Es ist also nicht verwunderlich, wenn der gebildeten Öffentlichkeit im allgemeinen und den Wissenschaftler(inne)n im besonderen nur allzu wenig über die wissenschaftlichen Leistungen von Frauen bekannt ist.
Anhand der im folgenden in den Text eingestreuten, chronologisch
aufeinander folgenden Biographien kann jede(r) Leser(in) an sich
selbst den diesbezüglichen Kenntnisstand testen.
Wer sich allerdings die Mühe macht, in Bibliotheken und Archiven gründlich nachzuforschen, wird nach längerem Suchen doch einige Informationen über die Rolle der Frauen in Naturwissenschaft und Technik finden. Vieles läßt sich dem sehr materialreichen Band "Woman in Science" von H.J. Mozans entnehmen, der 1913 zum ersten Mal erschien und 1970 vom Massachusetts Institute of Technology neu herausgegeben worden ist. Wie dieses Buch ist die Mehrheit der wenigen Schriften zu diesem Thema in Englisch erschienen. Dies dürfte zum Teil der in den angelsächsischen Ländern stärker fortgeschrittenen "women's lib"-Bewegung zu danken sein, zum Teil aber auch dem Wunsch der US-Regierungen, im Interesse der Rüstungspolitik auch die weiblichen naturwissenschaftlich-technischen Begabungsreserven zu mobilisieren.
Wie die herrschende deutschsprachige Wissenschaftsgeschichtsschreibung im allgemeinen mit den Frauen umgeht, will ich im folgenden an einigen Beispielen demonstrieren.
Die einfachste Möglichkeit, die Geschichte von Frauen zu unterdrücken, besteht darin, ihre Namen oder ihre Leistungen oder gleich beides schlicht totzuschweigen. So macht es zum Beispiel H.J. Störig in seiner "Kleinen Weltgeschichte der Philosophie". In diesem 550 Seiten starken Werk kommen Frau praktisch überhaupt nicht vor und die wenigen Ausnahmen höchstens in irgendeiner Beziehung zu einem Mann, nicht aber selbständig, als Wissenschaftlerinnen. Die einzige im Register aufgeführte Frau ist Königin Christin von Schweden. Sie wird im Text allerdings nur deshalb und nur insofern erwähnt, als sie Descartes nach Schweden eingeladen hatte. Die weiteren spärlichen Frauen des Textes erscheinen ebenfalls nur als bloßes Attribut eines männlichen Philosophen oder Wissenschaftlers. Dies gilt selbst für die Übersetzerin und Kommentatorin von Newtons Hauptwerk, Emilie de Breteuil. Sie wird (als "Marquise du Chatelet") lediglich in ihrer Funktion als "die Geliebte des Voltaire" für erwähnenswert gehalten; dies widerfährt ihr auch in anderen Werken.
TAPPUTI-BELATEKALLIN, THEOSEBEIA, PAPHNUTIA, KLEOPATRA: Anfänge der Chemie
Der Name von Tapputi-Belatekallin, der Parfümherstellerin, findet sich auf einer Keilschrifttafel des alten Mesopotamien, die sich auf die Zelt zwischen 1256 und 1209 vor unserer Zeitrechnung datieren läßt. Sie wurde zusammen mit sechs anderen Tafeln gefunden, die allesamt die technologischen Aspekte der Parfümherstellung behandeln. Aus dem zweiten Teil ihres Namens geht hervor, daß Tapputi, die Parfümherstellerin, der Vorstand eines Haushalts war, eine Hausfrau also. Offensichtlich unterstand die Herstellung von Parfümprodukten Hausfrauen, die für die einzelnen Produktionsschritte ihre eigenen Methoden entwickelt hatten. Dabei müssen sie durchweg empirisch vorgegangen sein, und zwar so, daß sie von der Kombination normaler Küchenoperationen über die weitere Entwicklung von Haushaltsgeräten zu immer spezialisierteren Verfahren der Destillation, Extraktion und Sublimation fortschritten. Für die Extraktion beispielsweise schreiben sie vor, den Vorgang je nach Fall 20 bls 40 Mal zu wiederholen - ein Gedanke, der sich durch die gesamte Geschichte der späteren Alchimie hindurchzieht. Zur Destillation und Sublimation wurde von den Babylonierinnen ein sogenannter "Diquaru"Topf benutzt. Das ist ein Topf aus Metall, der mit einem Deckel versehen ist und über lange Zeit erhitzt werden kann. Er stellt als Fortentwicklung eines normalen Küchentopfes die Urform der Destillationsgeräte dar, wie sie später von den Ägyptern, den Alchimisten der ersten nachchristlichen Jahrhunderte und von den islamischen Chemikern des 8. bis 11. Jahrhunderts benutzt worden sind. Die frühe Geschichte der abendländischen Chemie ist also babylonischen Hausfrauen zu danken, die vor über 3000 Jahren in Mesopotamien Parfüm herstellten. (Levey 1956, 1961).
Eine ähnliche, etwas abgeschwächte, Form des Totschweigens besteht darin, daß man nicht prinzipiell alle Frauen (als Wissenschaftlerinnen/Technikerinnen/ Medizinerinnen) totschweigt, sondern - gewissermaßen als Feigenblatt - nur einige wenige - nennt, die schon zu berühmt waren, als daß man ihre Namen und ihre Leistungen aus dem historischen Gedächtnis der Wissenschaft einfach hätte verdrängen können. So enthält beispielsweise jede Geschichte der Chemie zumindest eine Erwähnung von Marie Curie, die 1903, zusammen mit ihrem Mann Pierre Curie und Henry Becquerel, den Nobelpreis für Physik und 1911 zusätzlich noch alleine den Nobelpreis für Chemie erhielt. Weitere Frauen, die aus solchen Gründen in wissenschaftsgeschichtlichen Büchern relativ häufig vorkommen, sind Hypatia von Alexandria, Caroline Herschel, IrËne Joliot-Curie, Lise Meitner und Maria Göppert-Meyer. Doch damit hört die weibliche Geschichte dann im allgemeinen auch schon auf. Alle weiteren, wie fast alle in den nebenstehenden Kästen erwähnten Wissenschaftlerinnen, fallen in den meisten Werken unter den Tisch. Das gilt für die große "Biographische Enzyklopädie der Naturwissenschaften und Technik" von Isaac Asimov, die 1973 bei Herder erschienen ist, genauso wie für Armin Hermanns Buch "Große Physiker - Vom Werden des neuen Weltbildes" (Stuttgart 1959). Selbst das ansonsten so gründliche und umfassende vierbändige Werk "Wissenschaft. Science in History" des Physikers J.D. Bernal (Rowohlt, 1970) entspricht diesem Schema. Die beiden letztgenannten Autoren halten noch nicht einmal Maria Göppert-Meyer und IrËne Joliot-Curie für erwähnenswert.
Hingewiesen werden soll allerdings auch auf eine Ausnahme aus dem anglo-amerikanischen Raum: Das sehr umfangreiche mathematikgeschichtliche Nachschlagewerk "Bibliography and Research Manual on the History of Mathematics", 1973 von V. Kenneth und O. May herausgegeben, führt neben Hypatia auch Maria Gaetana Agnese, Sonya Kovalevskaya, Sophie Germain u.a. auf.
MARIA DIE JÜDIN (1. Jh.n.Chr.)
Arbeiten der babylonischen Parfümherstellerinnen wurden in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten von bedeutenden Alchimistinnen weitergeführt, unter ihnen Theosebeia, die Schwester des Zosimos, Paphnutia die Jungfrau und Kleopatra die Alchimistin. Eine unter ihnen ragte besonders heraus: Maria die Jüdin. Maria war eine reiche Frau und von Priestern, die ihre Begabung erkannt hatten, in die geheime Kunst der Alchimie eingeweiht worden. Sie wird in der späteren alchimistischen Literatur sehr häufig zitiert. Ihr wird die Entwicklung zahlreicher technischer Apparate zugeschrieben, ohne die auch die heutige Chemie nicht auskommt; so die Entwicklung verschiedener Öfen und von Koch- und Destilliergefäßen aus Metall, Ton und Glas. Als Verbindungsmittel benutzte Maria einen sogenannten "Tonerdekitt der Philosophen". Einige ihrer Erfindungen tragen ihren Namen und sind in der Alchimie vielfach zitiert. Sie ist Erfinderin des Wasser-, des Sand- und des Ölbades, also von Techniken, die heute feste Bestandteile des Chemiestudiums sind. (Wininger o.J., Alic 1981).
Eine subtilere Form der Verdrängung von Frauen aus der Wissenschaftsdokumentation geht so vor sich: Man nennt zwar ihre Namen, unterbewertet aber ihre Leistungen. Dies geschieht häufig bei Frauen, die mit ihrem Mann oder einem anderen männlichen Verwandten zusammengearbeitet haben, was jedoch oft die einzige Möglichkeit war, überhaupt wissenschaftlich zu arbeiten. Die Leistungen der Frau werden dabei in der Regel ab-, die des Mannes aufgewertet. So geschieht es oft mit Caroline Herschel, die mit ihrem Bruder zusammenarbeitete, aber selbständig acht Kometen entdeckte und mehrere astronomische Schriften veröffentlicht hat.
HYPATlA (370-415 n.Chr.)
Sie war die berühmteste Gelehrte der Antike, ein Universalgenie von großem Wissen, und lehrte im 4./5. Jahrhundert in Alexandria Philosophie, Algebra, Geometrie, Mechanik und Astronomie. Sie verfaßte mehrere mathematische Schriften und einen Kommentar zum "astronomischen Kanon" des Ptolemäus, der Tafeln über die Bewegung der Himmelskörper enthielt. Außerdem entwickelte sie zwei wichtige astronomische Instrumente sowie ein Areometer. Wie Plotin berichtet, galt Hypatia bald als die fähigste und klügste Repräsentantin der platonischen und aristotelischen Philosophie ihrer Zeit, so daß aus allen Gegenden der hellenistischen Welt Schüler zu ihren Vorlesungen strömten. Als Platonikerin wurde sie 415 von fanatischen christlichen Mönchen auf bestialische Weise ermordet. (Mozans 1981, Alic 1981).
Eine weitere Form der Leistungsabwertung findet sich in Asimovs "Biographischer Enzyklopädie der Naturwissenschaften und Technik". Dieses Werk enthält folgende Passage über Hypatia: "Berichte rühmen ihre Schönheit und Tugend, ihr Wissen und die Beliebtheit ihrer Vorlesungen, so daß spätere Zeiten ihre Gestalt in einem verklärten Lichte sahen. Sie brachte nichts Eigenständiges in die Wissenschaft ein, verfaßte aber sehr nützliche Kommentare über so frühe Gelehrte wie Ptolemäus und Diophantes." Dieses vorschnelle Urteil Asimovs muß schon angesichts des Wenigen erstaunen, das derzeit über Hypatias Schriften bekannt ist. Warum Asimov die "sehr nützlichen" Kommentare nicht als eigenständige Leistung anerkennen will, an anderer Stelle hingegen die Enzyklopädie eines männlichen Philosophen (des Pappus) als "meisterhafte" Leistung bewertet, bleibt unerfindlich. Und im übrigen: welcher überragende Wissenschaftler wird zu späterer Zeit nicht in "verklärtem Licht" gesehen? Des weiteren mußte auch Asimov bekannt sein, daß Hypatia auch durch die Entwicklung wissenschaftlicher Instrumente Wichtiges - und "Eigenständiges" - geschaffen hat. Trotzdem wirkt die Darstellung Hypatias bei Asimov noch etwas freundlicher als bei John D. Bernal: Dieser schreibt gar nichts über sie - außer über ihren tragischen Tod. Muß eine Frau erst gefoltert und ermordet werden, um in ein wissenschaftsgeschichtliches Werk aufgenommen zu werden?
HILDEGARD VON BINGEN (1098-1179)
Sie entwickelte bereits im 12. Jahrhundert Ansätze eines heliozentrischen Weltbildes. Die Sonne, so war ihre Ansicht, stehe im Zentrum des Firmaments, und sie halte die um sie kreisenden Sterne in derselben Weise fest, wie die Erde die Lebewesen anzieht, die auf ihr leben. Dies ist eine sehr bemerkenswerte Ansicht, denn im 12. Jahrhundert galt allgemein das geozentrische Weltbild, und die universelle Gravitation war noch unbekannt. Hildegard von Bingen verfaßte auf der Grundlage ihres enzyklopädischen Wissens eine ganze Reihe wichtiger medizinischer und naturgeschichtlicher Werke. Aber sie war nicht nur eine prominente Naturforscherin, Ärztin und Philosophin; als Äbtissin des Benediktiner-Konvikts von Bingen am Rhein verfaßte sie drei große theologische Schriften und hatte bedeutenden Einfluß auf die Gelehrten und Politiker ihrer Zeit. Außerdem wurde sie als Dichterin und Musikerin berühmt. (Mozans 1981, S.233-235, Jonas 1979).
Nicht viel besser als Hypatia werden jene Frauen behandelt, mit denen die Geschichte der abendländischen Chemie begann: die babylonischen Parfümherstellerinnen. Ich habe nur in einem der vielen wissenschaftsgeschichtlichen Nachschlagewerke, Bücher und Lexika, die ich durchgesehen habe, etwas über sie gefunden, und zwar von Martin Levey, in dem englischen Buch "Great Chemists" von 1961 - also wiederum nicht in einem deutschsprachigen Werk.
In ähnlicher Weise unterschlagen die einschlägigen deutschsprachigen Chemiegeschichten auch die Leistungen Marias der Jüdin, einer der großen klassischen Alchimistinnen, deren Erfindungen immerhin bis in die heutige Zelt nachwirken.
BARONESSE DE BEAUSOLEIL (17. Jh.)
Sie war nicht nur in Chemie, Mineralogie, Geometrie, Mechanik und Hydraulik versiert, sondern verfügte auch über einen großen politischen Weitblick. In ihrer ersten, 1632 erschienenen Schrift bewies sie dem König, wie er durch die Nutzung der reichen Bodenschätze seines Landes sich und Frankreich vom Ausland unabhängig machen könnte. Ihre zweite Schrift mit dem Titel "La Restitution de Pluton", erschien 1640, war an Kardinal Richelieu gerichtet und sollte zeigen, wie der König mittels der Nutzung der Bodenschätze der reichste aller christlichen Fürsten werden und sein Volk glücklich machen könnte. Die Baronesse de Beausoleil behandelt in ihren Schriften die Wissenschaft des Bergbaus, die verschiedenen Arten von Minen, den Metallgehalt von Erzen, die Methoden des Schmelzens sowie die allgemeinen Prinzipien der Metallurgie auf dem damaligen Stand der Wissenschaft. (Mozans 1981, S.238-240).
Statt den Babylonierinnen und Maria der Jüdin wird in den meisten wissenschaftsgeschichtlichen Werken die Herausbildung der Destillation und der Alchimie hingegen einem Mann, nämlich Zosimos aus Panopolis, zugeschrieben, der etwas später als Maria ebenfalls in Alexandria lehrte, nämlich gegen Ende des 4. und Anfang des 5. Jahrhunderts. Dabei hat Zosimos - dem deutschsprachigen "Buch der großen Chemiker" zufolge - nicht einmal "viele eigene Erfahrungen gehabt", sondern hat "mehr durch die Sammlung und Erklärung älterer Schriften als durch die Entdeckung neuer chemischer Tatsachen" auf die Alchimie gewirkt. Würde man also, wie Asimov, die Bedeutung eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin danach einschätzen, ob er oder sie etwas "Eigenständiges" in die Wissenschaft eingebracht hat, dann wären die Verfasser(innen) der besagten "älteren Schriften", z.B. die Alchimistinnen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte, zweifellos als bedeutender zu bewerten als Zosimos, ihr männlicher Nachfolger, dem dennoch die wesentlichen Erfolge zugeschrieben werden.
Hier liegt der Gedanke nahe, daß die wissenschaftlichen Leistungen der frühen Alchimistinnen - oder auch die ihrer babylonischen Vorgängerinnen - deshalb nicht angemessen herausgestellt wurden, weil sie eben von Frauen erbracht worden sind.
EMILIE-GABRIELLE DE BRETEUIL (1706-1749)
Sie übersetzte Newtons Hauptwerk "Philosophiae naturalis principia mathematica" ins Französische und versah diese noch heute einzige französische Übersetzung mit einem zusätzlichen Kommentar. In ihrem Schloß in Cirey hatte sie sich ein eigenes physikalisches Labor eingerichtet. Ihre erste naturwissenschaftliche Arbeit, eine Abhandlung über die Natur der Wärme, wurde von ihr als Lösung einer Preisaufgabe der französischen Akademie der Wissenschaften eingereicht. Emilie de Breteuil gewann zwar nicht den ausgeschriebenen Preis, doch wurde ihre Arbeit sehr gelobt und von der Akademie veröffentlicht. Für ihren Sohn verfaßte sie ein Lehrbuch der Physik mit dem Titel "Institution de Physique", dem sie Leibniz' Theorie der lebendigen Kräfte zugrunde legte. Über dieses Buch sagte Voltaire, daß darin "eine Methode und eine Klarheit" entwickelt sei, "die Leibniz selbst nie besaß und deren seine Gedanken bedürfen, sei es, daß man sie verstehen will, sei es, daß man sie widerlegen will". In diesem Lehrbuch hat Emilie de Breteuil offenbar einige spätere Schlußfolgerungen über die Natur der Energie vorweggenommen. (Mozans 1981, 5.151-153).
Diesen Verdacht, daß derart patriarchalische Überheblichkeit und Ignoranz die wissenschaftsgeschichtliche Ehrlichkelt reduziert haben könnten, wird erhärtet durch die einleitenden Sätze des Zosimos-Artikels im "Buch der großen Chemiker". In ihnen geht der Autor sehr direkt davon aus, daß nur Männer zu technischen und wissenschaftlichen Neuerungen fähig sind. Denn mit Bezug auf die Erfindungen der Steinzelt, die Entwicklung der Keramik, die Entwicklung der Pflanzenkultivierung, des Hausbaus und weiterer technischer Errungenschaften stellt er fest: "Keine Inschrift nennt den Namen eines Mannes, dem ein Fortschritt in technischen Dingen zu verdanken ist", und: "Kein Denkmal kündet uns den Ruhm des Mannes, der das erste Metall erschmolzen hat, den ersten Krug im Feuer gebrannt hat. "Woher weiß der Schreiber eigentlich, daß dies nicht Frauen waren?
LAURA BASSI (1711-1778)
Im Alter von 21 Jahren hat Laura Bassi in Bologna vor sieben Professoren und zwei Kardinälen mit größtem Erfolg und im elegantesten Latein ihre philosophische Dissertation verteidigt. Im selben Jahr erhielt sie an der Universität Bologna einen Lehrstuhl für Philosophie. Sie lehrte Algebra, Geometrie und Experimentalphysik und zog außerdem noch zwölf Kinder groß. Durch ihre Vermittlung konnte Voltaire Mitglied der Akademie werden. (Mozans 1981, S.203-212, Lexikon der Frau, S.716)
Es gibt nämlich einige Hinweise darauf, daß an den ersten Entdeckungen
und Erfindungen der Menschengeschichte, die allgemein als wichtige
kulturelle Fortschritte bezeichnet werden, Frauen einen entscheidenden
Anteil hatten, wenn, sie nicht sogar deren alleinige Schöpferinnen
waren. Dies z.B. bei der Entwicklung der Töpferkunst, des Hausbaus,
der Landwirtschaft und der Textilproduktion. Zumindest Ernest
Bornemann stellt in seinem Buch "Das Patriarchat" diese These
auf, und er führt dafür neuere Erkenntnisse der Archäologie, Geschichtswissenschaft
und Anthropologie an. So geht man heute davon aus, daß die Stämme
und Sippen der neueren Steinzeit (7000 bis 6000 Jahre vor Christus),
die die Pflanzenkultivierung entwickelten, mutterrechtlich organisiert
waren, daß sie Gemeinschaftsbesitz hatten, daß die Geschlechter
im Prinzip gleichberechtigt waren, und daß sie keine Kriege führten,
weshalb sie auch keine Befestigungsanlagen um ihre Siedlungen
bauten.
ANNA MORANDI MANZOLINI (1716-1774)
Der Inhaberin des Lehrstuhls für Anatomie an der Universität zu Bologna Anna Morandi Manzolini sind eine Reihe wichtiger Entdeckungen dieser damals noch jungen Wissenschaft zu danken. Ihr besonderer Ruhm: Sie entwickelte die anatomischen Wachsmodelle, die den Anfang der heute in jeder Schule und Hochschule gebräuchlichen biologischen und anatomischen Modelle darstellen. Aus ganz Italien erreichten sie Bitten um Exemplare solcher Wachsmodelle, und aus vielen Städten Europas, darunter London und Petersburg, erhielt sie ehrenvolle Einladungen. (Mozans 1981, 5.35, Universit? 1981, 5.35).
Aufgrund der vorhandenen Ansätze einer Arbeitsteilung zwischen
Männern und Frauen ist möglicherweise die Entwicklung der Pflanzenkultivierung
das alleinige Werk der Frauen gewesen. Entsprechendes gilt für
die Keramik, zu deren Entwicklung Ernest Bornemann schreibt: "Andererseits
ist Keramik von äußerster Wichtigkeit, weil man erst in letzter
Zeit entdeckt hat, daß es Töpferinnen gewesen sein müssen... Diese
Entdeckung führte zu der Vermutung, die sich mittlerweile bestätigt
hat, daß ein großer Teil der vorgeschichtlichen Werkzeuge von
Frauen erfunden worden ist. In Widerspruch zu der unter heutigen
Männern herrschenden Ansicht, daß der Mann "von Natur" größere
technische Begabung als die Frau besitze und die technische Entwicklung
der Menschheit deshalb allein das Werk der Männer sei, stellt
es sich immer mehr heraus, daß gerade diejenigen Werkzeuge der
Vorzeit, auf denen sich Jahrtausende später das industrielle Zeitalter
aufbauen sollte, Erfindungen der Frau waren. Wir haben bereits
vom Grabstock und der Hacke gesprochen... aber auch Spinnwirtel,
Spinnrad und Webstuhl, auf denen sich die ganze spätere Textilindustrie
aufbaut, sind weibliche Erfindungen, genau wie die Rohstoffe der
Textilproduktion, vor allem Flachs und Baumwolle, zuerst von Frauen
kultiviert und angepflanzt worden sind. Der Mann hat später vieles
verbessert, aber der intellektuelle Durchbruch, die schöpferische
Leistung, die eigentliche Kreativität kam niemals vom Mann, sondern
von der Urproduzentin: der Frau."
MARIA GAETANA AGNESI (1718-1799)
Sie fand bereits als Vierzehnjährige für einige Probleme der Ballistik und analytischen Geometrie neue originelle Lösungen und korrespondierte darüber mit angesehenen Mathematikern ihrer Zeit. Durch ein 1748 erschienenes, umfangreiches Lehrbuch der Analysis, das die französische Academie des Sciences ins Französische übersetzen ließ, wurde Maria Gaetana Agnesi in ganz Europa berühmt. Sie erntete Anerkennung und Begeisterung sowohl von berühmten Mathematikern und wissenschaftlichen Gesellschaften als auch von Fürsten und Regenten. Die größte Ehre wurde ihr durch Papst Benedikt XIV. zuteil, der ihr (selbst mathematisch gebildet) einen Lehrstuhl für höhere Mathematik an der Universität zu Bologna anbot. Erschüttert durch den Tod ihres Vaters schlug sie dieses Angebot jedoch aus und widmete ihr weiteres Leben den unterdrückten Schichten ihres Volkes. (Mozans 1981, S.78 u. S.143-150, Kenneth/May 1975, S.716).
Wenngleich m.E. nichts dagegen spricht, daß in dieser Zeit auch
Männer produktive Gedanken gehabt haben könnten, so bleibt in
diesem Zitat doch ein wichtiges Ergebnis bestehen: Offenbar hatten
die Frauen in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte einen wesentlich
größeren Anteil an der allgemein technischen Entwicklung als allgemein
bekannt ist - ja, noch mehr: daß Frauen wichtige Erfindungen gemacht
haben, die heute ganz selbstverständlich Männern zugeschrieben
werden. Vielleicht hat die seitherige Situation blind gemacht
für eine in diesem Sinne angemessene Geschichtsforschung? Dann
gilt es, durch die Wiederentdeckung der weiblichen Technikgeschichte
und der weiblichen Wissenschaftsgeschichte die Frau zu rehabilitieren.
Mme. LAVOISIER (18. Jh.)
Die Ehefrau des berühmten Chemikers Lavoisier war an der Entstehung seines für die moderne Chemie grundlegenden Werkes "TraitÈ de Chimie" wesentlich beteiligt. Sie machte die erforderlichen Illustrationen, sie arbeitete praktisch im Labor mit, und sie protokollierte die Ergebnisse der Experimente. Sie war es auch, die Englisch und Latein lernte, um die für die gemeinsame Arbeit wichtige fremdsprachige Literatur ins Französische zu übersetzen. Nach dem Tode ihres Mannes publizierte sie die noch von ihm projektierten "Memoirs on Chemistry" und in ihrem Hause trafen sich auch weiterhin die angesehensten Wissenschaftler ihrer Zeit. (Mozans 1913, S.214-216).
Haben Frauen die frühe Geschichte des technischen und wissenschaftlichen
Fortschritts entscheidend mitbestimmt, so ist der heute wieder
zunehmende Anteil von Frauen in Technik und Wissenschaft nicht
als Moment eines "langen Marsches" der Frauen in die Wissenschaft
zu interpretieren (bzw. in die Technik), sondern als langsames
Zurückgewinnen eines Terrains zu deuten, aus dem die Frauen einst
vertrieben worden sind. Dabei müssen sie sich allerdings die Frage
stellen, ob sie sämtliche der inzwischen stattgefundenen Veränderungen
dieses Terrains akzeptieren wollen oder nicht, denn die menschenfeindlichen
und umweltzerstörenden Folgen dieser Veränderungen sind für alle
spürbar.
ELEONOR ORMEROD (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts)
Sie gewann als Insektenforscherin und erste/r große/r "economic entomologist" internationales Ansehen. Ihre gesamte Arbeit hat sie der wirtschaftlich so wichtigen Schädlingsbekämpfung gewidmet. Als Spezialistin auf diesem Gebiet führte sie viele Forschungen durch und gab Landwirten und Gärtnern aus ihrer Gegend praktische Hinweise. Von 1877 bis 1898 verfaßte sie jährlich einen Bericht über ihre neuesten Forschungsergebnisse. Darüber hinaus erschienen mehrere Handbücher und Textbücher über Getreide-, Wald und Obstschädlinge. Führende Insektenforscher aus aller Welt, Landwirte und Regierungsbeamte ersuchten sie in täglich dutzenden von Briefen um Rat oder spezielle Informationen. Huxley sagte von Eleonor Ormerod bezüglich einer Arbeit, die sie als Mitglied eines speziellen Komitees verfaßt hatte, sie wisse mehr übers Geschäft als alle anderen zusammen. Sie war Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften, doch wurde sie (als Frau) nie geadelt, welche Ehre einem männlichen Wissenschaftler ihrer Leistung und Bedeutung wahrscheinlich zuteil geworden wäre. Doch wurde ihr in Anerkennung ihrer Leistungen von der Universität Edinburgh der Doktortitel verliehen - womit diese konservativ-altehrwürdige Institution sich zum ersten Mal dazu durchrang, eine Frau in solcher Weise zu ehren. (Mozans 1981, S.246-252).
Verwendete Quellen:
Hier kritisch untersuchte wissenschaftsgeschichtliche Werke:
Anmerkung 1983: Es mag eingewendet werden, diese Bücher seien nur zum Teil Standardwerke, insbesondere Asimov und Störig gälten als wenig fundierte Autoren; die von mir nachgewiesenen Mängel seien daher nicht der Wissenschaft anzulasten, sondern nur der schlampigen Arbeitsweise einiger ihrer Vertreter, die wirklich den wissenschaftlichen Standards entsprechenden Werke seien nicht so borniert. Dem ist zweierlei entgegenzuhalten: Zum einen prägen auch minderwertige Bücher das öffentliche Bewußtsein (um das es hier auch geht), zum anderen drücken sie durchaus Haltungen aus, die auch für die angeseheneren Wissenschaftler - und damit für unsere Wissenschaft überhaupt - typisch zu sein scheinen: Die erste Durchsicht von dreizehn weiteren (mir von Fach-Historikern empfohlenen) Werken erbringt im wesentlichen dieselben Resultate; der Nachweis dieser These im einzelnen würde den Rahmen dieser Veröffentlichung sprengen. Die oben genannten - hier untersuchten - Werke stellen m.E. eine charakteristische Stichprobe dar (eine Musterauswahl einer Universitätsbibliothek).
Anmerkung 1996: Die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnisse, die zur oben dargelegten Situation geführt haben, haben sich zwischenzeitlich nicht grundlegend, sondern nur graduell ein klein wenig verändert. Die Kategorie "Geschlecht" wird zumindest von einigen Wissenschaftshistoriker/innen thematisiert (siehe Meinel, Christoph/Renneberg, Monika (Hg.): Geschlecht als Thema der Naturwissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte [vorläufiger Titel], Stuttgart, GNT, 1996, in Druck).
Weitere Hinweise zu Publikationen und Quellen, welche das eigene Weiterforschen ermöglichen, gibt die umfangreiche
650seitige Bibliographie der Autorin dieses Beitrages:
Margarete Maurer: Frauenforschung in Naturwissenschaft, Technik und Medizin. Dokumentation
und Bibliographie. Literatur, Zeitschriften, Adressen, Wien (WFV, Reihe Dokumentation, Band 6) 1993.
Bestelladresse: RLI-Buchversand: Buchhandlung Jauker, Sampogasse 4, Postfach 33, A-1142 Wien, Austria/Europa,
Fax: +43/1/9859777, E-mail: jauker@utanet.at
Quellennachweis: Die ursprüngliche erste Fassung dieses Beitrages wurde am 22.11.1982 unter dem Titel "Naturwissenschaften und Technik. Die Vertreibung der Frauen aus ihrer Geschichte" in der Radio-Sendereihe "Der Mensch und die Welt" im ORF (l. Programm, Wien-Regional) ausgestrahlt und für den Druck umgeschrieben. Die Original-Druckfassung erschien in: Soznat. Blätter für soz.* Aspekte der Naturwissenschaften und des naturwissenschaftlichen Unterrichts, 6.Jg., Heft 3, Juni 1983, S.119-127. Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin; die Zeitschrift Soznat gibt es nicht mehr.
Bitte zitieren Sie diesen Aufsatz wie folgt:
Maurer, Margarete: "DIE VERTREIBUNG DER FRAUEN AUS DER WISSENSCHAFTS- UND TECHNIKGESCHICHTE".
Druckfassung erschienen in: Soznat. Blätter für soz.* Aspekte der Naturwissenschaften und des naturwissenschaftlichen Unterrichts,
6.Jg., Heft 3, Juni 1983, S.119-127.
Nach der elektronischen Version auf der RLI-Homepage (im RLI-Web): http://iguwnext.tuwien.ac.at/~rli/Seiten/natwi/vertreibung.htm, von 1998,
am ... [Datum der WWW-Abfrage eintragen].
Oder beachten Sie unsere Hinweise über Richtiges Zitieren im Netz.
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